Interview: Prof. Wolfgang Michalski
Wissen für die Wirtschaft
Trotz intensiver Nutzung steht die
Commerzbibliothek vor großen Herausforderungen. Die hamburger
wirtschaft sprach darüber mit dem Wirtschaftsexperten Wolfgang
Michalski.
hamburger wirtschaft: Sie nutzen die Commerzbibliothek seit 50 Jahren – warum eigentlich?
Wolfgang Michalski: Ich finde das Literaturangebot und den Service hier einfach exzellent.
hw: Was hat sich für Bibliotheken durch das Internet verändert?
Michalski: Es erleichtert das
Finden von Erstinformationen und Zitaten. Für weiterreichende
Recherchen benötigt man nach wie vor Bibliotheken.
hw: Warum bleiben Bibliotheken unverzichtbar?
Michalski: Wer sonst sollte
teure Fachliteratur und andere relevante Informationen in einem
umfangreichen Ausmaß zur Verfügung stellen? Wer sollte die
Vorauswahl aus der immer umfangreicheren Literatur treffen? Wer sonst
könnte als Dienstleister eine effiziente Unterstützung bei
Recherchen anbieten?
hw: Was muss die Commerzbibliothek tun, um für Unternehmer auch weiterhin wichtig zu sein?
Michalski: Sie muss für
die Interessen der Wirtschaft relevant und bezüglich der
verfügbaren Informationen aktuell sein. Auch spezielle
Rechercheangebote sind denkbar. In Unternehmen ist Zeit Geld, und wenn
man Informationsprofis zur Verfügung hat, die für Studien
oder Vorträge die Literatur zusammentragen, ist das bare
Münze wert.
hw: Könnten Sie sich
vorstellen, dass ein erweitertes Dienstleistungsangebot zu einer
verstärkten Nutzung von Bibliotheken führt?
Michalski: Ja, durchaus –
und zwar in zwei ganz unterschiedlichen Richtungen. Zum einen als
Kommunikationszentrum, und zum anderen durch die zunehmende
Digitalisierung der wirtschaftlichen und sonstigen Fachliteratur.
hw: Wie werden sich die Nutzererwartungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung verändern?
Michalski: Die Nutzer werden
erwarten, dass alles in elektronischer Form verfügbar ist –
sei es als E-Book, sei es im Hinblick auf die älteren
Bestände in digitalisierter Form. Niemand, der die Bibliothek
nicht in ihrer Funktion als Kommunikationszentrum nutzt, möchte
noch in die Bibliothek gehen müssen. Zuhause vom Rechner aus auf
alle wichtigen Bibliotheken weltweit zugreifen können, das ist die
Zukunft. Allerdings setzt dies unter anderem auch eine entsprechende
internationale Vernetzung unter den relevanten Bibliotheken voraus.
hw: Könnten Sie das noch etwas deutlicher erklären? Und vor allem: Was bedeutet es für die Commerzbibliothek?
Michalski: Bei
beschränkten Budgets kann nicht jede Bibliothek alles zur
Verfügung stellen. Auch innerhalb der wirtschaftlich relevanten
Literatur müssen sich die Bibliotheken spezialisieren. Darum
möchte ich über meine Mitgliedschaft in der Commerzbibliothek
auch auf die Inhalte anderer Bibliotheken, beispielsweise der British
Library in London, zugreifen können, ohne jeweils extra dafür
bezahlen zu müssen. Ich kann ja nicht überall Mitglied sein.
Das sollte über eine Stammbibliothek zentral geregelt sein. Das
heißt, sowohl der Zugang zu den anderen Bibliotheken des
Netzwerks als auch die Abrechnung müsste über die
Commerzbibliothek erfolgen können.
hw: Wo sehen Sie die zukünftigen Spezialisierungsfelder der Commerzbibliothek?
Michalski: Die
Commerzbibliothek sollte sich auf die Zukunftscluster der Wirtschaft in
der Metropolregion Hamburg spezialisieren. Darunter verstehe ich
ökonomische Literatur zu den Themen Schifffahrt und Logistik,
Luftfahrt, Erneuerbare Energien und Wasserstofftechnologie sowie zu den
Bereichen der Nanotechnologie und der Gesundheitswirtschaft mit den
Schwerpunkten Medizintechnik, Pharmazeutik und Biotechnologie.
Auch der Mediensektor mit den Unterbereichen IT und Games ist für
Hamburg nach wie vor wichtig. Gleiches gilt für die optischen
Technologien wie Laseranwendungen und hollistische Darstellungen.
hw: Wie sieht die Commerzbibliothek zu ihrem 300. Jubiläum aus?
Michalski: Sie wird sich zu
einer modernen Spezialbibliothek mit durch internationale Vernetzung de
facto vollständigen Sammlungen weiterentwickeln. Mit großem
Online-Angebot wird sie ein professionelles, effizientes
Kompetenzzentrum für aktuelle, wirtschaftsrelevante Informationen
darstellen, das sich weiterhin durch einen exzellenten fachlichen und
persönlichen Service auszeichnet.
Zur Person
Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Michalski leitete von 1979 bis 2001 den
Planungsstab der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (OECD). Vorher war er Professor für
Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und gleichzeitig
Stellvertretender Direktor des HWWA-Instituts für
Wirtschaftsforschung. Heute berät Michalski Unternehmen,
Regierungen und internationale Organisationen in wirtschaftspolitischen
Fragen. Seit 2006 ist er HamburgAmbassador in Paris.
Informationen
Zum 275. Jubiläum der Commerzbibliothek erscheint am 4. November
ein ganz besonderes Buch, für das Wolfgang Michalski das Vorwort
geschrieben hat: „Wissen für die Wirtschaft im
Wandel“. Darin machen sich fünf Experten aus Wirtschafts-
und Bibliothekskreisen Gedanken über den Wandel und die
Notwendigkeit von Innovationen für die Commerzbibliothek. In
kurzen Essays beantworten sie die Frage, wie sich Bibliotheken
künftig entwickeln müssen, damit sie für die Wirtschaft
nützlich und attraktiv bleiben.
hamburger wirtschaft, Ausgabe
August
2010